Ein spärlich beleuchteter Tisch voller seltsamer Spielkarten, der Rest der Holzhütte liegt in absoluter Dunkelheit. Mir gegenüber: zwei glitzernde Augen. Schon der Anfang des Spiels »Inscryption« ist verstörend: Hier wird keine Vorgeschichte in aufwendigen Cutscenes oder auch nur dürrer Laufschrift erzählt. Was zu tun ist, sagt mir mein unheimliches Gegenüber.
Die Karten zeigen Waldtiere. Um eines abzulegen, müssen schwächere auf dem Tisch geopfert werden. Für ein Hermelin muss ein Eichhörnchen dran glauben, für den Wolf müssen sogar zwei kleinere Tiere sterben. Ein Klingeln an der rostigen Glocke, und mein Gegenspieler schickt seine Tiere gegen mich ins Feld. Ding, ding: Kommt eine Attacke durch, klappern Backenzähne in eine Metallschüssel an einer Waage, neigt sie sich ganz zu einer Seite, ist die Partie verloren oder gewonnen.
»Inscryption« ist ein taktisches Kartenspiel, in dem man seine Hand aus unterschiedlichen Karten, im Jargon »Deck« genannt, möglichst clever zusammenstellen muss. Aber es ist noch mehr: Auf einer nach jedem Kartenduell ausgerollten Landkarte ziehe ich von Feld zu Feld, kann Karten verbessern, einkaufen oder neue Gegenspieler treffen. Nach zwei, drei Duellen kommt ein mit besonders fiesen Tricks auftrumpfender Endgegner, der mit Masken und Requisiten von meinem unheimlichen Gegenüber verkörpert wird.
Doppelte Böden und Metafiktionen
Irgendwann scheitern meine Tierkarten im Kampf, die Partie ist vorbei. Natürlich kann ich eine neue beginnen. Ich kann aber auf einmal auch vom Tisch aufstehen und mich in simpler First-Person-Perspektive in der finsteren Holzhütte umsehen. Was nur ein Kartenspiel war, ist plötzlich auch ein Escape-Game mit Puzzle-Elementen. Wie geht diese Truhe auf? Was bedeutet die Kuckucksuhr mit drei Zeigern? Und wieso beginnt plötzlich die Hermelinkarte mit mir zu sprechen?
Der kanadische Spielemacher Dan Mullins, der hinter »Inscryption« steckt, ist Spezialist für solche Psychospielchen. Schon sein Debüt »Pony Island« kam daher wie ein ultrasimples Geschicklichkeitsspiel. Doch je länger man es spielte, desto unheimlicher wurde es. Die vierte Wand, jene zum Publikum, wurde eingerissen, irgendetwas will mit mir vor dem Monitor Kontakt aufnehmen – und plötzlich ist das gerade noch so kindlich-nette Game etwas ganz Anderes.
Ähnliches passiert auch in »Inscryption«. Hier mehr darüber zu verraten, was genau auf seine Spielerinnen und Spieler wartet, würde dem Ganzen aber jeden Reiz rauben.
Jedes Wort ein potenzieller Spoiler
Es ist ein Dilemma: Wie soll man über etwas sprechen, das von Überraschung und Nichtwissen lebt? Der Idealfall jeder Rezeption ist jener von Ahnungslosigkeit, er ist aber auch der privilegierteste. Wer einen Kinosaal betritt, weiß für gewöhnlich, was ungefähr zu sehen sein wird, bei Büchern liest man den Klappentext. Professionelle Kritikerinnen und Kritiker leben vom Einordnen und Vorstellen von Kulturprodukten.
Bei Spielen kann man sich gewöhnlich zumindest des Genres sicher sein: Ein First-Person-Shooter ist kein Echtzeitstrategiespiel, in einem Plattformer muss ich keine Kolonie aufbauen, in einem Deckbuilder wie »Slay the Spire« stehe ich nicht vom Tisch auf und flüchte in ein Nebenzimmer. Normalerweise zumindest nicht.
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Dass Spiele nur selten versuchen, ihre Spielerschaft mit Absicht vollständig in die Irre zu führen, hat auch technische Gründe: Jedes Gameplay-Element muss separat entwickelt werden, braucht ein eigenes User-Interface, Playtesting und vieles mehr. Und das Resultat ist ein Spiel, über dessen Qualität nur in Andeutungen gesprochen werden kann: Spiel das doch! – Warum? – … Vertrau mir einfach!
Poesieklub und Bruchrechnen mit Fröschen
In Zeiten kultureller Überproduktion und riesiger »Piles of Shame«, die abzuarbeiten sind, ist solch ein Vertrauensvorschuss, wie ihn »Inscryption« ausdrücklich verdient hat (Vertrauen Sie mir einfach!), nicht selbstverständlich. Kein Wunder, dass die Nische vergleichbarer »Mind Games« klein ist. Mullins’ inzwischen drei Spiele, »Pony Island«, »The Hex« und eben »Inscryption« immerhin haben einen Bekanntheitsgrad erreicht, der das abverlangte Vertrauen in den Blindkauf rechtfertigt.
Einige andere Spiele ähnlicher Art sind von vornherein unkommerziell angelegt. Das 2017 erschienene, fast schon legendäre »Doki Doki Literature Club!«, das auf den ersten Blick aussieht wie eine japanische Dating-Sim-Visual-Novel, ist ein von vielen Fans kultisch verehrtes Ausnahmespiel. Über seine Qualität und sein großes Geheimnis wird auf Plattformen wie Reddit in fett mit Spoiler-Warnungen versehenen Threads gesprochen.
»Frog Fractions« aus dem Jahr 2013 wiederum ist scheinbar ein simples Browser-Game, in dem man mit Fröschen Bruchrechnen lernen soll – auch hier ist jeder Verweis auf das, was im weiteren Verlauf des sehr seltsamen Spiels passiert, Sabotage am Spielspaß.
Zugleich hat »Frog Fractions« das Spiel mit den Metaebenen auf ein absurdes Niveau angehoben: Der US-Entwickler Jim Crawford hat den Kultcharakter seines Freeware-Spiels auf einzigartige Weise für ein Alternate-Reality-Game mit seiner Fanbasis genutzt. Zwei Jahre lang schickte er die Fans auf eine Schnitzeljagd nach Hinweisen auf einen zweiten Teil seines Spiels. Letzten Endes wurde »Frog Fractions 2« dann als verstecktes Spiel in einem anderen Spiel gefunden – eine wilde Geschichte, die auch zeigt, dass die Sehnsucht nach dem Nicht-Offensichtlichen, dem Geheimen manchmal mehr bringt als professionelle PR.
»Inscryption« ist für Windows erschienen. Es kostet 19,99 Euro.
Meisterwerk »Inscryption«: Psychospielchen am Computer - DER SPIEGEL
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